Holger geht zum Bahnhof

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Holger geht zum Bahnhof

Schlüssel eingesteckt, Licht aus, Tür zu. Los geht's. Zuerst runter, vorbei an Jung, Hodel, Ünal und der Kellertür, raus, rechts durch den Torbogen. Die Altpapiertonnen stehen draußen, muß ein Donnerstag sein. Und kalt ist es, gibt 'ne Triefnase, und, naja, Schlüssel, Portemonnaie und ein Bonbonpapier, klar, natürlich kein Taschentuch. Was soll's. Aufkleber auf den Autos: D für Deutschland, Ein Herz für Kinder, ADAC, einer hat "I love aircraft noise"; als Schild im Rückfenster, das "love" als Herz. An der Ecke Frau Giersberg, aber auf der anderen Straßenseite, sie ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Links runter, Richtung Bahnhof. Die lange Postmauer entlang mit den rührend gepflanzten Efeuranken, ohne Blätter, viel zu kalt für Blätter. Dafür jede Menge Graffiti - alle, die gelernt haben, was darstellen zu müssen, haben sich hier kunstvoll und platt verewigt. Auf der rechten Seite ein Taxi, altes Modell, ohne Dachzeichen. Nur noch privat genutzt, das überschüssige Geld lieber in einen neuen Arbeitsplatz investiert. Zum Bahnhof! Hermannstr. mündet ein, kein Problem, daß einer einbiegt, man ist auf der richtigen Seite. Kennt sich nicht aus, stößt zurück und biegt andersrum ab. Egal! Links, in der Nummer 7, wohnte mal einer, den er kannte: Nikolaus Lazaridis, damals 12 wie er, aber der kriegte es immer ab. "Ganz ruhig, Dr. Mabuse", und dann in seinen neuen Klamotten solange an der Wand hin und her geschleift, bis alles dreckig war. Ist aber schon vor Jahren weggezogen, nach Griechenland. Bahndamm - rechts oder links. Links Döner, rechts 100 m zum Bahnhof. Links riechts gut, aber rechts Bahnhof. Rechts! Schlosserei, Kiosk. Hofeinfahrten, vier Stück, obwohl das Hinterhaus ein einziger durchgehender Block ist. Hier wohnt kein einziger Deutscher mehr: Zu laut, Bausubstanz zu marode, außerdem 'ne schreckliche Fassadenfarbe. Das einsame Schuhgeschäft, das jahrelang zum allgemeinen Staunen überstanden hatte, ist nicht pleite gegangen, sondern nur umgezogen, allerdings in die andere Richtung. Kein Auto, rüber auf die andere Seite. Der ehemalige missionarische Fischimbiß verrammelt und vollgesprüht. Was besseres würde ihm auch nicht einfallen. Und da ist schon die Unterführung. Die Ampel blinkt, immerhin, die für die Fußgänger ist ganz aus, natürlich. Aber auch immer noch kein Auto! Die Bahn hat vor einiger Zeit den Bahndamm an dieser Stelle gelb angemalt, mit Zugfenstern, durch die man Landschaften sieht, an denen man vorbeikommt, wenn man nur weit genug wegfährt. Als Akt guten Willens belächelt, bedauert, und dann bestaunt, weil sich die Sprayer tatsächlich zurückhielten. Doch nicht so übel und anarchisch. Nord- oder Südeingang? Nord natürlich. Also durch den Tunnel. Aufpassen, von oben tropft's. Gewußt wie. Hell genug zum Ausweichen ist's, aber an der kritischen Stelle kommt natürlich einer entgegen. Wahrscheinlich ein Marokkaner, also: Einfach Straßenseite wechseln. Scheint ein friedlicher zu sein, er interessiert sich überhaupt nicht für mich, wie wahrscheinlich fast alle Marocs. Das Schlechteste an ihnen ist ihr Ruf. Raus aus dem Tunnel, rechts ist der Taxistand, aber nur zwei Taxis da. Das eine ist die unvermeidliche Kollegin von der 57, die steht immer hier. Niemand zum Verlieben, aber hat schwer gelitten, die Frau: Geschieden und dabei noch abgelinkt. Rechts aber auch das graue Eisengitter, das die Kellertreppe der Bahnhofskneipe absichert, mit dem Schild "Fahrräder anstellen verboten", das jemand liebevoll abgeschraubt und andersrum befestigt hat. Aber das Schild gibt's schon ewig, es weiß jeder, was draufsteht und die Fahrräder stehen da sowieso. Die Plakate, die sie dabei beeinträchtigen, sind fast alle halb abgerissen und interessieren niemanden wirklich. Wo die Eingangstreppe des Bahnhofs vorspringt, steht ein alter städtischer Eisenverschlag, grau und rostig. Was da drin ist oder war, weiß keiner, außer den Ratten, die manchmal durch das Loch im Boden rausschlüpfen, besonders nachts und bei Regen. Es regnet nicht, keine Ratte kommt. Ungefähr sieben Stufen zum Bahnhofsportal, zu einem davon, es sind mehrere, grün, aber egal welches, alle führen rein. Oder auch nicht. Der Bahnhof! Natürlich ist er zu, um drei Uhr nachts. Jetzt läuft die Nase wirklich, wie vorausgesehen. Kann man nix machen. Der Bahnhof ist zu, alles in Ordnung also. Denn mal flugs heim, es ist wirklich kalt, und bevor es doch noch zu regnen beginnt... Vielleicht sollte er das nächste mal die Winterjacke anziehen, die ist wärmer, und Taschentücher einstecken. Das würde dem Ganzen eine ganz neue Qualität verleihen. Aber diese Überlegungen haben Zeit bis morgen. Oder übermorgen. Oder noch besser, er würde sie noch weiter aufschieben, wie jede Nacht. Alle Nächte waren irgendwie gleich, und das war nicht schlecht. Das konnte ruhig so bleiben. Auf den Bahnhof war Verlass!

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...wer sich in Offenbach auskennt, müsste sogar rekonstruieren können, in welcher Strasse Holger wohnt!

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